Plattformökonomie im Handwerk: Entwicklungen, Chancen und Herausforderungen aus ökonomischer Perspektive

Alhusen, H., Bizer, K., Dilekoglu, K., Meub, L., Proeger, T. & Thonipara, A. (2021). Plattformökonomie im Handwerk: Entwicklungen, Chancen und Herausforderungen aus ökonomischer Perspektive. Göttinger Beiträge zur Handwerksforschung (Heft 57). Göttingen.

Das Entstehen der Plattformökonomie und die damit verbundene Konzentration von Datennutzung und -zugang sind zentrale Zukunftsherausforderungen für Handwerksunternehmen. Diese Studie untersucht die Entwicklungen der Plattformökonomie und deren ökonomische Auswirkungen für das Handwerk. Dafür ist die Studie in zwei Abschnitte gegliedert: Der erste Teil erläutert theoretische Grundlagen und Funktionsweisen der Plattformökonomie. Im zweiten Teil wird empirisch auf Basis von Experteninterviews die Entwicklung von Plattformökonomie und Datennutzung im Handwerk untersucht. Hierfür werden zunächst die aus Expertensicht derzeit wichtigsten Plattformen identifiziert und eine Zuordnung zu den verschiedenen Typen von Plattformen vorgenommen. Wesentliche Ergebnisse der Studie sind:

Chancen, Risiken und Herausforderungen

  • Zentrale Chancen der Plattform-Nutzung liegen in der effizienten Kundenakquise, der Reduzierung des Aufwands für innerbetriebliche Verwaltung sowie der Auftragsabwicklung. Sie ermöglichen eine bessere Spezialisierung auf Marktnischen und daraus resultierend die Akquise besser bezahlter Aufträge. Damit verbunden können in enger Zusammenarbeit mit Plattformen innovative Geschäftsmodelle umgesetzt werden, vor allem im After-Sales-Bereich.
  • Risiken liegen in der - aufgrund von Netzwerkeffekten - raschen Etablierung einer oder weniger Plattformen für Handwerksdienstleistungen, welche Einzelunternehmen in ihrer Unabhängigkeit beschneiden kann. Dem entgegen steht die derzeit starke Marktposition der Handwerksunternehmen. Das von den Plattformen ausgehende Risiko wird entsprechend laut den befragten Experten von Betrieben als gering eingeschätzt.
  • Erfahrungen aus dem Bereich der Augenoptiker oder dem Dachdecker-Handwerk zeigen allerdings, dass Plattformen unerwartet schnell in einen Markt eindringen und bedeutende Marktanteile für sich sichern können.
  • Angetrieben wird diese Tendenz von den industriellen Herstellern, die aufgrund der Auftragslast im Handwerk zunehmend nach Möglichkeiten zum Direktkontakt mit Endkunden suchen, wobei Plattformen eine zentrale Rolle für den Kontakt zum Endkunden spielen. Eine weitere treibende Kraft dabei ist auch die Übernahme von Koordinierungsfunktionen zwischen Gewerken durch Plattform-Betreiber, die einen erheblichen Kundennutzen bedeuten würden.
  • Die Herausforderung besteht schließlich in der Datennutzung, sofern ein Datenzugang besteht. Diese kann von Einzelbetrieben nur in Ausnahmefällen geleistet werden, sodass der Aufbau kooperativer Strukturen erforderlich wird; anderenfalls ist eine mittelfristige Übernahme der Funktionen durch Plattform-Betreiber realistisch. Beispiele für zunehmend stark datengetriebene Geschäftsmodelle sind dabei die Zahntechniker, Tischler und Feinwerkmechaniker.

Bereiche dynamischer Entwicklung

  • Eine hohe Dynamik bei Plattformen wird dort erwartet, wo skalierbare Industrieprodukte hinter einer Dienstleistung stehen oder die Fertigung digital unterstützt ist.
  • Bereits besonders stark betroffen sind die Bereiche Kfz, SHK und Elektro sowie das Baugewerbe. Dies liegt zum einem an dem oftmals bereits starken Digitalisierungsgrad dieser Gewerke, welcher die Nutzung von Plattformen deutlich erleichtert. Zum anderen verwenden diese Bereiche skalierfähige, vernetzbare Produkte. Dieser Umstand macht es für die Industrie besonders interessant, in diesen Gewerken datenzentrierte Plattformen zur Vernetzung der elektronisch vernetzbaren Produkte aufzubauen. Der Aufbau dieser Plattformen kann mittelfristig der Industrie ermöglichen, direkt an Endkunden heranzutreten und sich weitere Marktanteile im After-Sales-Bereich zu sichern.
  • Perspektivisch schwach betroffen sind Branchen mit vorrangig personenbezogenen Dienstleistungen, bspw. Frisöre, Kosmetiker, Fleischer und Bäcker. Die Dienstleistungen und Produkte dieser Gewerke lassen sich nur schwer auf datenzentrierten Plattformen organisieren, was eine Monopolbildung durch Plattform-Anbieter entsprechend verhindert.

Entwicklungsperspektiven

  • Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen und deren Umsetzung auf Plattformen wird zu Prozessoptimierungen führen und Betriebe um einen Teil der betriebswirtschaftlichen Prozesse erleichtern. Betriebe müssen dabei die Entscheidung treffen, wie weit die betriebswirtschaftliche Steuerung an Plattform-Betreiber abgegeben wird. Deren Vorteile liegen in der möglichen stärkeren Konzentration auf die handwerkliche Tätigkeit und mögliche Spezialisierungsgewinne, Nachteile im stärkeren Wettbewerb innerhalb von digitalen Ökosystemen und dem teilweisen Verlust an unmittelbarer Steuerungsfähigkeit.
  • Zentrale Nutzungshemmnisse bei der plattformbezogenen Transformation des Handwerks liegen in der konjunkturell bedingt bislang geringen Notwendigkeit der Auftragsakquise über Plattformen sowie der Skepsis handwerksexternen Akteuren gegenüber. Der Aufbau von Plattform-Lösungen durch handwerksinterne Akteure ist daher eine mögliche Lösung.
  • Insbesondere im Hinblick auf die Branchen mit zunehmend starker Datennutzung ist ein wichtiger Entwicklungspfad die Polarisierung bei den Betriebsgrößen: Große Handwerksbetriebe sind in der Lage, komplexere Prozesse umzusetzen und dadurch neue Geschäftsmodelle aufzubauen. Kleinstbetriebe verlieren tendenziell an Unabhängigkeit gegenüber von Betreibern von Plattform-Modellen, während mittlere Betriebe entweder Nischen besetzen, wachsen oder ebenfalls abhängigere Positionen in Wertschöpfungsketten besetzen.
  • Die Vernetzung und Datenverarbeitung im Internet der Dinge entwickelt sich dynamisch, wodurch der Zugang zu den entstehenden Daten für die künftige Marktposition entscheidend ist. Neben der rechtlichen Frage offener Schnittstellenstandards ist jedoch die praktische Frage der Fähigkeit zur Nutzung der Daten entscheidend. Die effektive Fähigkeit zum Aufbau von datenbasierten Geschäftsmodellen liegt primär bei großen Unternehmen, Verbünden aus dem Handwerk oder aber bei handwerksexternen Betrieben aus Industrie und Handel, was zwangsläufig - auch im Falle von freien Datenzugängen - zu zum Teil gravierenden Umstrukturierungen der Märkte führen wird.
  • Infolgedessen besteht eine Herausforderung für die betroffenen Branchen des Handwerks darin, kooperative Strukturen zwischen Handwerk, Handel und Industrie aufzubauen, um in den neu strukturierten Wertschöpfungsketten einen Einfluss der Handwerksperspektive zu erhalten.
  • Eine Möglichkeit, den Einfluss zu verstärken wäre - neben dem Aufbau von Kooperationen - der Aufbau und die Erprobung handwerkseigener Plattform-Lösungen, die als tendenziell neutrale Akteure zwischen Betrieben, Handwerksorganisation und handwerksexternen Akteuren konzipiert werden könnten. Hierbei besteht ein Trade-Off zwischen der stärkeren Beeinflussung der Entwicklung und Kosten sowie dem Entwicklungsrisiko der Eigenentwicklung.

Handlungsfelder

  • Handwerksunternehmen werden vor allem im B2B-Bereich über datenzentrierte Plattformen zunehmend Veränderungsdruck erfahren, der durch die Marktdurchsetzung von skalierbaren, vernetzbaren Industrieprodukten und digitalen Fertigungsmethoden getrieben wird. Handwerksunternehmen und -organisationen müssen sich in dieser Entwicklung auf allen Ebenen konstruktiv einbringen, wenn sie (noch) Einfluss auf die Entwicklung nehmen wollen.
  • Durch das vermehrte Aufkommen von datenzentrierten, herstellerbetriebenen Plattformen wird in Zukunft eine einheitliche Regulierung von Schnittstellen notwendig sein, die einen weitgehend offenen Datenzugang ermöglicht. Dieser erfordert jedoch im nächsten Schritt die Umsetzung der verfügbar gemachten Daten in Geschäftsmodelle, was als gemeinsame Entwicklungsaufgabe des Handwerks verstanden werden muss.
  • Die Datennutzung und das Gewicht von Plattformen werden für die Marktposition kleiner und großer Handwerksunternehmen einen polarisierenden Effekt haben. Eine Begleitung und Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle von beiden Gruppen von Unternehmen ist erforderlich, um innovative Vorreiter zu stärken und gleichzeitig die Transformation veränderungsbedürftiger Geschäftsmodelle zu unterstützen.
  • Die konjunkturell nachvollziehbare Zurückhaltung bei der Adaption von Plattform-Lösungen in der Breite des Handwerks schwächt die künftige Marktposition der Betriebe und stärkt die Anreize für handwerksexterne Akteure, eigene Lösungen aufzubauen und diese am Markt durchzusetzen. Um künftige Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, ist daher die sektor- und branchenübergreifende Entwicklung von Plattformen, Datennutzungsmodellen und Geschäftsmodellen aus der Initiative des Handwerks heraus zwingend erforderlich, auch wenn diese mit Kosten und Entwicklungsrisiken verbunden ist.
Für Rückfragen zu den Ergebnissen dieser Studie steht Dr. Lukas Meub zur Verfügung.
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