Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Dienstleistungen - Auswirkungen auf das Handwerk

Kornhardt, U. (2009). Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Dienstleistungen - Auswirkungen auf das Handwerk. Göttinger Handwerkswirtschaftliche Arbeitshefte (Heft 62). Göttingen.

Seit Mai 2009 können die Mitgliedsstaaten der EU auf bestimmte arbeitsintensive Dienstleistungen dauerhaft einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden. Hierdurch sollen zusätzliche Nachfrage und Beschäftigung in den arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen geschaffen und die Schattenwirtschaft eingedämmt werden. Mit der Optionslösung ist ein zehn Jahre währender Feldversuch in der EU zu Ende gegangen, in dem sich bis zum Schluss Befürworter und Gegner dieser Maßnahme gegenüberstanden. Derzeit machen 18 der 27 EU-Mitgliedsstaaten von der Regelung Gebrauch. Deutschland lehnt die Maßnahme nach wie vor ab und will die Option auch künftig nicht nutzen.

Im vorliegenden Arbeitsheft wird untersucht, wie sich die Einführung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf arbeitsintensive Dienstleistungen auf das Handwerk auswirken würde. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die möglichen Preisveränderungen bei den Handwerksleistungen sowie die zu erwartenden Nachfrage- und Beschäftigungseffekte in den betroffenen Handwerksbranchen. Daneben wird der Frage nachgegangen, mit welchen Mindereinnahmen bei der Mehrwertsteuer die Maßnahme verbunden wäre. Schließlich wird eine vergleichende Bewertung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf arbeitsintensive Dienstleistungen mit dem bereits seit einiger Zeit eingeführten Steuerbonus auf Handwerkerleistungen ("Handwerkerbonus") vorgenommen.

Die Beantwortung der Frage, ob der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive Dienstleistungen ein geeignetes und sinnvolles ökonomisches Mittel ist, hängt in erster Linie davon ab, ob und inwieweit die damit verknüpften Ziele realisiert werden können: Schaffung von mehr Nachfrage in den begünstigten Dienstleistungsbereichen und damit neuer Arbeitsplätze. Daneben sollten die "Kosten" der Maßnahme in Form von Steuerausfällen in einem angemessenen Verhältnis zu den erreichbaren Beschäftigungseffekten stehen. Hierzu hat die Untersuchung u.a. folgende Ergebnisse gebracht:

  1. Die Einführung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes in den in der Richtlinie festgelegten arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen würde eine deutliche Preisreduzierung bei den Handwerksbetrieben ermöglichen, die je nach Tätigkeitsbereich zwischen 6 % (Renovierung und Instandsetzung von Privatwohnungen) und 9 % (Friseurdienstleistungen, Reinigung von Fenstern und Gebäuden) liegt.
  2. Durch den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive Dienstleistungen werden je nach unterstellter Preiselastizität der Nachfrage erhebliche positive Nachfrage- und Beschäftigungseffekte in den betroffenen Handwerksbranchen ausgelöst. So ist nach den Berechnungen des ifh Göttingen allein im Friseurhandwerk mit 9.000 bis 35.000 neuen Arbeitsplätzen zu rechnen. Im Gebäudereinigerhandwerk könnten rund 6.000 bis 23.000 und im Bauhandwerk rund 4.000 bis 14.000 zusätzliche Arbeitsplätze generiert werden. Für das Handwerk insgesamt sind realistischerweise rund 50.000 neue Arbeitsplätze zu erwarten. Die zusätzliche Nachfrage nach arbeitsintensiven Handwerksdienstleistungen ist auf ca. 1,5 Mrd. Euro zu veranschlagen.
  3. Knapp ein Drittel aller schattenwirtschaftlichen Aktivitäten in Deutschland, zusammen rund 107 Mrd. Euro, betreffen Arbeiten im und am Haus sowie Friseurdienstleistungen. Beide Bereiche würden durch den ermäßigten Mehrwertsteuersatz begünstigt.
  4. Insbesondere effizienztheoretische Überlegungen sprechen für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive Dienstleistungen, die leicht durch Eigen- oder Schwarzarbeit ersetzt werden können. Denn dadurch wird der Steuerkeil verringert, der den Preis arbeitsintensiver Dienstleistungen erhöht und so maßgeblich dazu beiträgt, dass ein großer Teil dieser Leistungen nicht über den Markt bezogen, sondern schwarz oder in Eigenleistung erbracht wird. Auch wenn der Kostenvorteil der Schwarzarbeit bestehen bleibt, darf der psychologische Effekt eines um 12-Prozentpunkte deutlich reduzierten Mehrwertsteuersatzes nicht unterschätzt werden.
  5. Aufgrund der großen Zahl der mehrwertsteuerbefreiten Kleinunternehmen in den von der Mehrwertsteuerermäßigung betroffenen Tätigkeitsbereichen würde die Einführung eines ermäßigten Steuersatzes die faktische Marktspaltung in den betreffenden Branchen und die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen weitgehend beseitigen. Dadurch würde ein fairer Wettbewerb zwischen den Unternehmen in diesen Branchen ermöglicht.
  6. Durch die Einführung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von 7 % auf die in der Richtlinie festgelegten handwerksrelevanten arbeitsintensiven Dienstleistungsbereiche kommt es zu Mindereinnahmen bei der Mehrwertsteuer von ca. 1,43 Mrd. Euro. Tatsächlich dürften die "Kosten" jedoch wesentlich geringer ausfallen, weil sich die Maßnahme durch die dadurch zusätzlich geschaffene Nachfrage und Beschäftigung teilweise selbst finanziert.
  7. Eine ermäßigte Mehrwertsteuer auf arbeitsintensive Dienstleistungen wäre eine ideale Ergänzung des bestehenden "Handwerkerbonus", weil dadurch bei Renovierungs- und Modernisierungsleistungen für Häuser bzw. Wohnungen im Bestand der Anreiz für private Haushalte noch einmal deutlich erhöht würde, die Leistungen regulär über den Markt zu beziehen und nicht in die Schattenwirtschaft auszuweichen.

Insgesamt lässt sich als Resümee festhalten, dass die Beurteilung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf arbeitsintensive Dienstleistungen positiv ausfällt, weil damit einer drohenden weiteren Verlagerung der Nachfrage in diesen sehr arbeitsintensiven und damit stark schwarzarbeitsgefährdeten Tätigkeitsbereichen in die Schattenwirtschaft, insbesondere in Kombination mit dem schon bestehenden "Handwerkerbonus", wirkungsvoll entgegengewirkt werden kann. Zudem ist die Maßnahme mit durchaus vertretbaren Kosten verbunden, weil sich in der Einführungsphase die Mehrwertsteuerausfälle in Grenzen halten und sich die Maßnahme in der zweiten und den weiteren Runden aufgrund der zu erwartenden positiven Einkommens- und Beschäftigungseffekte weitgehend selbst finanzieren dürfte. Schließlich führt eine uneinheitliche Anwendung dieses Instruments in den EU-Mitgliedsstaaten zu einer weiteren Zersplitterung des europäischen Mehrwertsteuerrechts mit der Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen in grenznahen Regionen.

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