Quo vadis Handwerk? Identität des Handwerks im Wandel
Cramer, G. & Müller, K. (2011). Quo vadis Handwerk? Identität des Handwerks im Wandel. Göttinger Handwerkswirtschaftliche Studien (Band 82). Duderstadt: Mecke.
In den letzten Jahren hat sich im Handwerk vieles verändert. Auch die Identität – ein Wesensmerkmal des Handwerks – ist brüchig geworden. Die starke Klammer dieser Identität war über einen langen Zeitraum die gemeinsame Sozialisation. Sie begann mit dem Berufszugang über die Lehre in der dualen Ausbildung, führte über die Gesellentätigkeit bis zur Meisterschule und den Erwerb des Großen Befähigungsnachweises als Voraussetzung zur Selbstständigkeit und zu dem Selbstverständnis, Lehrlinge auszubilden und so die Sozialisationskette im Handwerk fortzuführen. Das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität basierte auf dieser Sozialisation im Handwerk.
Dabei war der Meisterbrief unbestrittener „Markenkern“ des Handwerks. Handwerksbetrieb und Meisterbetrieb konnte man geradezu als Synonym verwenden. Diese Gemeinsamkeit, die Zugehörigkeit zum Handwerk im meisterlich geführten Handwerksbetrieb, fand ihren Ausdruck etwa in der Pflege ähnlicher Lebensstile, in einem eigenen, eben handwerklichen Qualitätsbewusstsein, im Verantwortungsbewusstsein für das örtliche Gemeinwohl und sicher auch in der Mitgliedschaft in einer Innung.
Diese Klammer ist schwächer geworden. Hierfür sprechen vor allen drei Gründe: Erstens hat die Novellierung der Handwerksordnung zum 1. Januar 2004 die Zugangsvoraussetzungen zum Handwerk erheblich gelockert. Die bestandene Meisterprüfung gilt zwar noch als die Regelvoraussetzung für die Führung eines Handwerksbetriebes. Faktisch ist der Meisterbrief aber nicht mehr die häufigste Voraussetzung. Das bedeutet: Für einen großen Teil der Betriebe, die zum Handwerk gerechnet werden, hat die geschilderte Sozialisationskette an Bedeutung verloren oder ist ganz gebrochen.
Zum zweiten bleiben Veränderungen in den Qualifikationsanforderungen und auch im Berufsbildungssystem nicht ohne Folgen für das Selbstbild – die Identität – im Handwerk. Es gibt Hinweise darüber, dass die gestiegenen Anforderungen besser durch ein Studium als durch die stärker praxisbezogene Aus- und Fortbildung im Handwerk mit der Meisterqualifikation erfüllt werden. Welchen Druck das allseits propagierte Ideal des lebenslangen Lernens, die Modularisierung des Berufsbildungssystems und die zunehmende Anlehnung an einen Europäischen Qualifizierungsrahmen auf den Berufszugang und damit auch auf die Identitätsbildung im Handwerk ausüben werden, darüber lassen sich einstweilen nur Vermutungen anstellen.
Drittens üben die Märkte Druck auf die Identität des Handwerks aus. Die Nachfrage scheint sich zunehmend zwischen zwei Polen zu akzentuieren: einerseits hohe Qualitätserwartungen und ein umfassendes Serviceangebot mit entsprechenden Anforderungen an die Kompetenzen der Anbieter und anderseits eine fast ausschließliche Orientierung an einem möglichst niedrigen Preis. Die breite Mitte im Handwerk mit fundierter persönlicher Qualifikation und einem qualitativ guten und selbstständigen Angebot innerhalb der jeweiligen Gewerkegrenzen scheint zu schrumpfen. Damit verliert die breite, Identität stiftende Mitte des Handwerks an Gewicht.
Diese Entwicklungen stellen das Handwerk vor die Herausforderungen, ein modifiziertes oder sogar neues Bild vom Handwerk zu entwickeln, das als Leitbild oder als Benchmark zukunftsfest ist und auch für die Teile des Handwerks erstrebenswert ist, die diesem Leitbild zunächst nicht entsprechen. Die Frage ist also nicht nur, wie das Handwerk aktuell aussieht, sondern auch, wie es in Zukunft aussehen will. Hierzu muss eine ernsthafte und inhaltliche Debatte um die Fortentwicklung der Identität - vor allem im Handwerk selbst – geführt werden.
Der vorliegende Band will dazu einen Beitrag leisten. Er enthält elf Beiträge namhafter Autoren aus der Handwerksorganisation und der Wissenschaft. Dabei werden unterschiedliche Sichtweisen zur Entwicklung einer veränderten Identität des Handwerks vermittelt. Ziel ist es, eine breite Diskussion vor allem im Handwerk selbst anzustoßen. Es geht um eine nüchterne Bestandsaufnahme. Und es geht um Visionen für ein künftiges Handwerk.
Im Einzelnen enthält der Sammelband folgende Beiträge:
Georg Cramer u. Klaus Müller: Das Handwerk braucht Identität - Hinführung zum Thema
Otto Kentzler: Leitbild des Handwerks Beirat „Unternehmensführung im Handwerk“: Handwerk ist mehr
Wolfgang Dürig: Dynamik der Märkte. Was bedeutet das für die Identität des Handwerks?
Klaus Müller: Rückgang des Identitätsbewusstseins im Handwerk. Konsequenzen aus einer Lockerung der Zugangsvoraussetzungen
Detlef Buschfeld: Handwerk in sich - Berufsbildung und ihr Bezug zum Selbstverständnis des Handwerks
Rainer S. Elkar: Gedanken über die Identität des Handwerks
Nikolaus Schuchhardt: Anmerkungen zur Profilierung des Handwerks durch eigene Identität
Georg Cramer: Identitätsfindung des Handwerks in Europa
Christine Ax: Handwerk ist Zukunft und fähig
Gustav Kucera: Handwerkliches Selbstverständnis als Voraussetzung für die Identität