Optionen einer Umfinanzierung der Sozialversicherungssysteme - Wirkung auf Beschäftigung und Handwerk
Kornhardt, U. (2006). Optionen einer Umfinanzierung der Sozialversicherungssysteme - Wirkung auf Beschäftigung und Handwerk. Göttinger Handwerkswirtschaftliche Arbeitshefte (Heft 56). Göttingen.
In Wissenschaft und Politik besteht weitgehend Einigkeit, dass die hohen Lohnzusatzkosten in Deutschland ein wesentlicher Grund für die anhaltenden Arbeitsmarktprobleme hierzulande sind. Hohe Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung belasten den Einsatz des Faktors Arbeit und bremsen dadurch die Arbeitsnachfrage. Das personalintensive Handwerk ist von den hohen Lohnzusatzkosten besonders negativ betroffen, weil die Sozialabgaben mittlerweile rund zwei Drittel des Direktentgelts ausmachen und der Anteil der Arbeitskosten an der Wertschöpfung über 80 % beträgt. Daraus resultiert gegenüber der wesentlich kapitalintensiver produzierenden Industrie ein erheblicher Kostennachteil, der in den letzten Jahren zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der Handwerksbetriebe geführt hat. So sind im Handwerk seit Mitte der 90er Jahre bis heute rund 1,5 Mio. Arbeitsplätze verloren gegangen. Aus diesem Grund ist eine nachhaltige Entlastung gerade der personalintensiven kleinen und mittleren Betriebe bei den Lohnzusatzkosten dringend geboten.
Vor diesem Hintergrund hat das Seminar für Handwerkswesen an der Universität Göttingen im Auftrag des Zentralverbandes der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke untersucht, auf welche Weise insbesondere die arbeitsintensiven kleinen und mittleren Unternehmen bei den Lohnzusatzkosten entlastet werden können, um deren Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu verbessern und dadurch positive Beschäftigungseffekte auszulösen. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht der Vorschlag eines Freibetrages bei den Sozialabgaben für Unternehmen und die damit verbundenen Kosten- und Beschäftigungswirkungen.
In einer detaillierten Analyse wird gezeigt, dass ein Freibetrag bei den Arbeitgeberbeiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung in Höhe von 24.000 EUR im Jahr vor allem bei kleinen Betrieben unter 20 Beschäftigten – dies betrifft rund 90 % aller Betriebe in Deutschland – zu einer deutlichen Verringerung der Arbeitskosten führt. Die vorgeschlagene Höhe des Freibetrages ist so bemessen, dass rein rechnerisch ein Betrieb mit vier bis fünf sozialversicherungspflichtig beschäftigten Vollzeitarbeitnehmern von den gesetzlichen Sozialabgaben vollständig befreit ist. Dadurch werden vor allem kleine Betriebe bis 10 Beschäftigten bei den Sozialabgaben entlastet. So brauchen bei dem vorgeschlagenen Freibetragsmodell beispielsweise Handwerksbetriebe unter 10 Beschäftigte überhaupt keine Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung mehr abzuführen.
Durch die Freibetragsregelung für Unternehmen werden Impulse für eine zusätzliche Nachfrage von rund 600.000 Arbeitskräften ausgelöst, davon über 160.000 allein im Bereich des Handwerks. Selbst bei einer vollen Gegenfinanzierung der zu erwartenden Beitragsausfälle über Steuererhöhungen verbleiben unterm Strich noch beachtliche Beschäftigungsgewinne.
Dabei zeigt die Analyse - und das ist das Besondere an der Freibetragsregelung - , dass sich bei einer Senkung der Sozialabgaben in Form eines Freibetragsmodells für Unternehmen deutlich höhere Arbeitsmarkteffekte als bei einer linearen Senkung mit identischem Entlastungsvolumen ergeben. Grund hierfür ist die gezielte Begünstigung der kleinen und mittleren Betriebe durch die Freibetragsregelung, dass also die kleinen Betriebsgrößenklassen wesentlich stärker bei den Arbeitskosten entlastet werden als die großen. Denn eine Senkung der Arbeitskosten wirkt sich hier viel deutlicher auf die Arbeitsnachfrage aus, weil davon auszugehen ist, dass kleine und mittlere Betriebe aufgrund ihrer relativ hohen Arbeitsintensität wesentlich "empfindlicher" hierauf reagieren als große kapitalintensive Betriebe. Deshalb sind hier die Chancen für mehr Beschäftigung am größten.
Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und der akuten Arbeitsmarktprobleme darf es bei der Entlastung des Faktors Arbeit keine Denkblockaden geben. Auch die Beschreitung völlig neuer Finanzierungswege sollte kein Tabu sein. Die vorgeschlagene Freibetragsregelung bei den Sozialabgaben für Unternehmen könnte hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, wenn die damit verbundenen Umsetzungsprobleme und Ausweichreaktionen begrenzt werden können, weil hierdurch der Faktor Arbeit gezielt vor allem dort entlastet wird, wo sich hohe Arbeitskosten ganz besonders stark als Beschäftigungsbremse erweisen.